Rede an Peter Voigt
Lieber Peter, als Deine Frau Brigitte mich bat, etwas über Deine Bilder zu sagen, war ich sehr erfreut und fühlte mich sehr geehrt. Erst allmählich dämmerte mir, dass meine spontane Zusage auch ein bisschen anmaßend war; denn obwohl ich mich mit Deinen Bildern immer sehr beschäftigt habe, und obwohl ich unsere kunsttheoretischen Gespräche nie vergessen habe, begriff ich doch ziemlich schnell, dass, je tiefer man in Deine Bilderwelt eindringt, einblickt, die Worte, die man dazu findet, den Gegebenheiten Deines Werkes nicht richtig genügen können, unzureichend bleiben müssen.
Es verschlägt einem sozusagen die Sprache, wie es so schön heißt. Denn, wie soll man es gerecht und richtig sagen, würdigen, was in Deinen Bildern zum Ausdruck kommt und mir langsam immer begreiflicher wird. Die Tatsache nämlich, dass der Mensch, dass der neue unserer Zeit und Zivilisation angehörende Mensch, in einem strukturell geprägten Zeitalter selbst ein Teil dieses strukturellen Systems geworden ist. In Deinen Bildern wird sichtbar, dass der moderne Mensch nicht mehr zueinandersteht oder miteinander ist, sondern rasterartig nebeneinander, gegeneinander, ohne gegenseitiges Interesse oder gar Zuneigung, nicht etwa in sich ist, sondern nur vor sich hin. Es wird sichtbar, dass der Mensch in der, wie man heute sagt, Massengesellschaft trotz – oder besser gesagt auf Grund permanenter Unterhaltung und Beschäftigung, Ablenkung und Informiertheit immer einsamer und einzelner wird, dass er trotz gesellschaftlicher Einbindungen inmitten aller anderen allein ist und höchstens als Gegner taugt, dass es ihm nur noch um sich selbst geht und dadurch um nichts anderes.
In Deinen Bildern kommt zum Ausdruck, dass der Mensch sein Selbersein vergessen hat und er dadurch den Bedingungen der modernen Zeit anheimfällt, zufällt. Es kommt in ihnen zum Ausdruck, dass der einzelne Mensch, zwischen Geburt und Tod, sich mehr oder weniger selbst überlassen ist, sozusagen befreit von metaphysischen Dogmen, allein gelassen und irgendwie entwurzelt, sich frei wähnend und aufgeklärt vor sich hinleben darf und muss. Das ist, das zeigt sich und wird meines Erachtens vielleicht erst heute begreifbar, nach und nach spürbar als Dein großes Thema. Du hast in Deinen Bildern den erst in unserer Zeit langsam sichtbar werdenden, jetzt aber offensichtlichen Zustand der neuen Menschenwelt zum Inhalt, zur Auseinandersetzung gemacht, wie nur wenige andere Maler.
In Deinem Zyklus der Familienalben kommt für mich noch zusätzlich etwas eindringlich zum Ausdruck. Diese Bilder sind Aussagen über das Vergessen. Sie sind Monumente des Andenkens und Erinnerns. Diese Bilder erinnern uns daran, dass wir nicht und nichts vergessen dürfen. Diese Bilder bringen zum Ausdruck, dass wir nicht nur Zukunft haben, sondern auch Vergangenheit. Dass wir auch vergangene Zeit haben und dass es Zeiten vor uns gab – nicht nur goldene, glorreiche, gute – sondern auch finstere, schlechte und schreckliche. In einer Zeit, die anscheinend so viel Zukunft hat, in der die Gegenwart nicht wirklich gegenwärtig ist vor lauter Schnelligkeit und zukünftigem Fortschritt, ist das Vergessen sozusagen normal geworden. Wer sich dennoch erinnert, wirkt störend. Dies war Dir, wie ich glaube, sehr bewusst. Du hattest damit zu rechnen. Für Dich war der Künstler in der Moderne eine unabhängige, keiner gesellschaftlichen Übereinkunft verpflichtete, keinem Dogma zugehörende, nur seinem eigenen Gewissen und seiner Intuition unterworfene Instanz.
Du hattest Dein Gedächtnis nicht verloren. Im Gegenteil. Du hattest störenfriedhaft daran erinnert, was gewesen war, was verschwiegen werden musste, da das kollektive Gedächtnis überfordert war und mit Gedächtnisausfall reagierte. In Deinen Bildern über die Gefangenen, ihrer Freiheit Beraubten und um ihr Leben Fürchtenden kommt das besonders eindringlich, mitleidend schwer erträglich, zur Aussage. Diese Bilder sind nicht Abbilder, sondern Sinnbilder. Bildlich gewordene Darstellungen gegen das Verschweigen, gegen das voreilige Vergraben ins Unterbewusste. Du brachtest besonders in diesen Bildern vors Auge, was eigentlich augenfällig sein sollte, ins Auge fallen müsste, aber dennoch nur von ganz wenigen Malern zum Inhalt gemacht wurde. Wir alle möchten am liebsten die Augen verschließen vor diesen Schilden gegen die Herzlosigkeit, vor diesem in der heutigen Kunst zumeist ungesagt Gebliebenen, aber wie Du bewiesen hast nicht Unsagbaren, aber für unausdrückbar, unsagbar Befundenen.
Diese Bilder, die wirklich nur von Dir so gemalt werden konnten – oder besser gesagt mussten – sind, wie ich finde, nicht Anklage oder Vorwurf, sondern drücken eher Trauer aus, melancholische Trauer. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Thematik, deren Bewältigung mit ästhetischen Mitteln sich eigentlich ausschließt, hast Du es außerdem und insbesondere geschafft, was für Dich als Maler immer genauso wichtig sein musste, dass nämlich Malerei auch hier Malerei bleibt – in Deinem Fall malerische Malerei. Ich sage das ausdrücklich; denn Dir war immer bewusst, dass das nur Gutgemeinte nicht ausreicht, dass im Kunstwerk zu allererst künstlerische Umsetzungen gelten, dass dem Inhalt angemessene Anstrengungen gemacht werden müssen, dass für die Entstehung des Kunstwerkes Moralität allein nicht ausreichen kann.
Es war eine diesen Tatsachen entsprechende Notwendigkeit, dass bei diesem Inhalt Dir die Arbeit nur langsam und unter großen Schwierigkeiten von der Hand, von der Palette ging. Es konnte auch, angemessen, nicht anders sein. Deine Arbeitsweise musste, um den bisher nur zur Gesellschaftsphilosophie gehörenden Themen gerecht zu werden, zögernd, schrittweise, nicht nur vorwärtsdenkend, zukunftsversessen, wie es heutzutage gang und gäbe ist, sondern oft auch rückwärtstastend vor sich gehen, das heißt: Das schon Gemalte, Errichtete wieder verwerfen, zerstören, der Sache immer wieder von Grund auf, gründlich auf den Grund gehen. Der Wahrheit zuliebe Chaos schaffen, um dann wieder Ordnung über das Chaotische zu bringen. So sind in jedem Bild von Deiner Hand viele und andere verborgen. Dadurch ist nicht nur das, was man oberflächlich zu sehen glaubt, von unserem meist zu schnellen Blick, sondern eben auch das Darunterliegende, Verworfene, nicht mehr Augenfällige trotzdem wirkend, anwesend.
Das Handeln mit Farbe auf Leinwand, das Bemühen um die Form führt in der Malerei zu Bildern, die sachgemäß auch immer dekorative Elemente einschließen. Dein Kampf um die Form zum Inhalt vermied die Gefahr des zu Dekorativen und schuf so die von mir bereits erwähnten Sinnbilder. Für den der Malerei verpflichteten Maler wurden die Zeiten schwer. Du bist auf jeden Fall immer unbeeindruckt Maler geblieben, in der Tradition der Malerei stehend, sie zum Zentrum aller Bemühungen machend und aus ihr schöpfend. Dir war immer klar, dass sich das Thema, der Inhalt im Bild in Malerei verwandeln muss, das heißt in Deinem Fall Farbfleck neben Farbfleck, die von nervöser Hand aufgetragene Farbmaterie bestätigend. Farbfleck auch als Selbstzweck, als Träger von Rhythmus, Farbwert und Farbtemperatur. Die so verstandene Malerei musste selbst zum Wert werden, zum gleichen, gleichberechtigten Wert, sinngebenden Wert, parallel zum Sinn des Themas, zum klar erkennbaren Inhalt.
Darüber hinaus hast Du zur räumlichen Definition, zur Klärung des Bildraumes mit Deiner melancholischen Farbigkeit sowohl die Bildfläche selbst bestätigt, als auch gleichzeitig – und das ist ein besonderes Merkmal Deiner Malerei – imaginäre Bildräume geschaffen, in denen Deine erfundenen abstrahierten Gestalten, bei aller Bildhaftigkeit, auf diesen von mir schon erwähnten Zustand der Menschenwelt hinweisen, über sie Auskunft geben. Den Farbauftrag, die Farbe selbst, die Farbtöne – das einerseits Pastose, andererseits das fast in der Struktur der Leinwand verschwindende Lasierte, die Töne, die Klänge von nicht ganz weiß schimmernd über sensibel gemischtes Grau, gräulich, düster bräunlich. Rotbraun, zuweilen auch Leuchtendrot und Rosarot bis hin zu Dunkelbraun, Braungrau, fast Samtschwarz, oft schwefeliges Gelb, ‚Höllengelb‘, selten Blau – warum auch, es gibt in Deinen Bildern keinen Himmel obwohl Du oft zu ihm hochgeschaut hast, wie ich mich erinnere – besitzen einen eigenen Wert und dadurch als grandiose Malerei Geist und Sinn, eigenständigen Sinn, parallel zum Sinn des Inhalts.
Lieber Peter, in Deinem Anliegen kommt Deine menschliche Weltwahrnehmung zum Ausdruck, in Deiner neiderweckenden Malerei Dein Geist.
Vor nicht langer Zeit besuchte mich ein junger Maler, ein ehemaliger Braunschweiger Student, der zu meiner Überraschung bei der Durchsicht eines Kataloges mit Bildern meiner Schüler bemerkte, ich zitiere: „Die sehen alle aus wie Voigt-Schüler.“ Du siehst, die Kontinuität Deiner Lehre über Malerei ist bei mir in guten Händen. Denn Du warst nicht nur ein meisterlicher Maler, sondern auch ein guter Lehrmeister. Dazu eine kleine Anekdote zur Beleuchtung Deiner Lehre, vielleicht erinnerst Du Dich: Ich werde den Schreck nie vergessen, als ich am Anfang meiner Lehrzeit, als Dein beflissener Lehrling – lang, lang ist's her – eine Kostprobe Deiner Art und Weise, Bilder zu analysieren, zu korrigieren und schlecht Gemaltes zu eliminieren, leidend erfuhr. Denn auf die radikale Art und Weise, wie Du das in Deinen eigenen Bildern bereits Erreichte auf den Kopf stelltest, um zu überprüfen, ob in der Komposition auch nichts wackelt, stelltest Du meine von mir frisch gemalten Katzen auf den Kopf, decktest mit einem schmutzigen Mallappen die Hälfte, mindestens die Hälfte der Bildfläche ab, um dann durch den Qualm Deiner Pfeife in ziemlich unterkühltem Ton zu sagen: „Diese Stelle ist gar nicht mal so schlecht“ – und ließest mich in tiefem Rätsel zurück. Da hattest Du mich ahnen lassen, dass Malerei etwas anderes ist, als das, was man üblicher Weise von ihr erwartet und was ich bis dahin von ihr dachte. Die so gemeinte Malerei ist heute in Deiner von Dir mitgegründeten Kunsthochschule, aber wie man gerechter Weise sagen muss nicht nur da, auf dem Rückzug und mir scheint, dass sie über kurz oder lang ganz und gar vertrieben sein wird, und so bleibt es unter anderem Dein Verdienst, dass es in Deiner bilderfeindlichen Heimatstadt wenigstens für einige Zeit Malerei gegeben hat.
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf die schon erwähnte Bedeutung des Himmels zurückkommen. Ich erinnere mich noch gut, als Brigitte und Du bei uns in Ronzano zu Besuch wart, und wir eines Abends – durch Wein besonders intelligent geworden, aber auch streitsüchtig – das an und für sich müßige Thema beim Wickel hatten, wer für die Malerei wichtiger war und ist, Giotto oder Piero della Francesca, in deren Wirkungsnähe wir uns ja befanden, Du plötzlich aufstandst und nicht wiederkamst. Auf der Suche nach Dir fand ich Dich im Garten unter dem Nachthimmel stehend, weltentrückt die Sterne betrachtend. In diesem Augenblick wurde mir vieles über Dich klar.
Auch ich schaue heute manchmal in die Sterne. Ich weiß, Du bist dort oben im Malerhimmel. Solltest Du den Maler Campigli treffen, bestelle ihm schöne Grüße!
Hermann Albert
Peter Voigt. Hauptsächlich: Malerei. Bilder aus der Zeit 1955 – 1990. Nord/LB Braunschweig (Hg.), Braunschweig 2000, o. S.