Peter Voigt
Am 19. Februar dieses Jahres wäre Peter Voigt 100 Jahre alt geworden. Wie hätte er die momentane Weltsituation kommentiert, was wäre in ihm vorgegangen, hätte er die täglichen Meldungen gehört? Aus der Ukraine, aus Israel, aus Gaza? Peter Voigt, dessen Leben und Werk sich über eine beeindruckende Spanne bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erstreckt. Ein Mann, der wesentliche Brüche und Ereignisse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hautnah er- und durchlebt hat und als Künstler dieses Jahrhunderts immer wieder ein vielschichtiges Bild seiner selbst und der inneren Widersprüche der Gesellschaft zeichnet.
Die Biografie wird von extremen Erlebnissen wie dem Zweiten Weltkrieg, dem Tod, der Zerstörung der Städte, dem Tod des Zwillingsbruders, der das Ende des Krieges nicht erlebt, geprägt. Oder später, dem in den 60er Jahren einsetzenden gesellschaftlichen Wandel, den Peter Voigt sowohl als Künstlerpersönlichkeit als auch als Gründungsrektor der Kunsthochschule in Braunschweig erlebt.
Peter Voigt wird sich in seinem gesamten künstlerischen Werk bis zu seinem Lebensende immer wieder mit seinen persönlichen Erlebnissen, die die Erfahrungen einer ganzen Generation spiegeln und den gesellschaftspolitischen Änderungsprozessen in einer Vielzahl seiner Arbeiten auseinandersetzen.
Nach seiner Freilassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft beginnt Voigt ein Studium „Freie Malerei und angewandte Aufgaben" in Braunschweig in einer Zeit, in der die „Gesellschaft Deutschlands […] nicht nur materiell, sondern auch mental und innerhalb ihrer sozialen Strukturen zusammengebrochen war.“1946 wechselt er nach Hamburg an die „Landeskunstschule Hamburg“. Er bewirbt sich mit Hunderten anderer Studierender um einen Platz in der Klasse von Alfred Mahlau für das Studium der Gebrauchsgrafik und der Freien Grafik. In den 1920er Jahren gehört Mahlau zu den innovativsten Bühnen- und Kostümbildnern. Zudem aber war er einer der bekanntesten Gebrauchsgrafiker des 20. Jahrhunderts, der stilprägende, erfolgreiche Warenzeichen in zeitlos-ästhetischer Qualität gestaltet hat. U.a. die bis heute verwendeten Marken Niederegger oder die Sieben Türme für die Schwartauer Werke. Entsprechend groß war Mitte der 1940er Jahre das Interesse bei ihm zu studieren. Peter Voigt war einer der wenigen, die es geschafft haben, in die Klasse aufgenommen zu werden. Herausragende künstlerische Begabungen wie Horst Janssen und Vicco von Bülow werden seine Kommilitonen.
Frühe Gemälde Voigts werden von einer grafischen Flächigkeit getragen, von geometrischen Elementen, die die Komposition trotz des expressiven Duktus’ definieren. Arbeiten der 1950er Jahre sind voller farbiger Leuchtkraft, die aber durch eine streng geometrischen Bildaufbau gehalten werden.
Der Kunsthistoriker Lothar Romain formuliert es 1990 so: „Was der Bildaufbau festhält und eher zur Ruhe zwingt, gerät unter der Bewegung des Malens in Aufruhr, ohne doch explodieren zu wollen.“
Frühe Schlüsselwerke Voigts, das Gemälde Zwillinge von 1962 oder die auf dem Katalogumschlag abgebildete gleichnamige Aquatinta aus dem selben Jahr, zeugen nicht nur von hoher künstlerischer Qualität, sondern auch von seinem grafischen Gespür. Auch die seine Arbeiten oft strukturierenden, kraftvollen zwei- oder dreigeteilten Flächen, an Diptychen oder Triptychen erinnernd, sind ikonische Zeichen, die den Arbeiten Voigts schon in der Anlage Aussage und Bedeutung geben.
Ein strenger, konstruktiv-geometrischer Bildaufbau liegt auch der Arbeit Gefangene aus dem Jahr 1968 zugrunde. Im Format 120 auf 120 cm legt Voigt ein Raster auf die Leinwand, teilt sie in vier beinahe gleich große Flächen. In jedem dieser Bildflächen sind Köpfe zu erkennen.
Voigt verzichtet auf den Einsatz von Farbe bei der Darstellung von Material wie dem Holz der Gefangenenpritschen, oder auf die Inkarnatfarbe der Figuren. Er reduziert die Palette auf Grautöne und damit das Dargestellte auf das Wesentliche. Es bedarf keiner Individualisierung, die bis auf die geometrischen Grundformen reduzierten Oberkörper und Köpfe erzählen dennoch nachdrücklich von Schicksalen. Durch den Verzicht auf Identifizierbarkeit von Individuum, Ort, Zeit und Raum, vermag dieses Gemälde sich der Kontextualisierung zu entziehen. Mit Blick auf seine Erfahrungen der eigenen Kriegsgefangenschaft kann dieses Motiv ein Abbild dessen sein. Orientiert am Entstehungsjahr des Bildes, 1968, aber auch als deutliche Reaktion auf die zunehmende Aufarbeitung der NS-Zeit verstanden werden.
Obwohl die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bereits unmittelbar nach Kriegsende mit den Nürnberger Prozessen beginnt, fordert die 68er-Bewegung eine kollektive Vergangenheitsbewältigung und moniert eine aus ihrer Sicht ausgebliebene Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte.
Peter Voigt wird sowohl den Remer-Prozess in Braunschweig als auch die in Frankfurt stattfindenden Auschwitz-Prozesse mit Sicherheit verfolgt haben.
Nach zwei Jahren in Hamburg verfügt Voigt über eine solide akademische Grundlage, aber ganz sicher will er nicht Gebrauchsgrafiker werden, sondern es zieht ihn weiter nach Berlin, an die Hochschule für Bildende Künste. Das erste Jahrzehnt nach 1945 ist an dieser Hochschule die sogenannte „Ära Hofer“. Karl Hofer „besaß die künstlerische Statur und moralische Integrität, um einen Neubeginn durchzusetzen und zu repräsentieren.“
Lothar Romain schreibt nach einem Gespräch mit Peter Voigt, dass Voigt die namhaften, und von den Nationalsozialisten verfemten Künstler der Generation der Weimarer Republik nur von schlechten Schwarz-Weiß-Abbildungen auf schlechtem Papier gedruckt kannte. Hier in Berlin lehrten diese von den Nationalsozialisten verfolgten Künstler der Weimarer Generation wieder.
Voigt bewirbt sich in Berlin bei Heinrich Graf Luckner für die Aufnahme in dessen Meisteratelier und wird auch dort unter vielen Mitbewerbern angenommen.
Luckner ist, als Voigt bei ihm studiert, einer der großen Porträtisten der jungen Bundesrepublik. Er malt u.a. Ernst Reuter, Theodor Heuß oder Mary Wigman mit expressionistischem Gestus, aber stark reduzierter Farbpalette. Ganz ohne Einfluss ist Graf Luckners Malerei auf Voigt nicht geblieben, denn auch seine eigenen späteren Porträts, die er von Braunschweiger Bürgerinnen und Bürgern malt, darunter die damalige Oberbürgermeisterin Martha Fuchs, deuten auf Luckner hin. Voigts Porträts zeugen von einem hohen Maß an Empathie, respektvoller Zurückhaltung und hoher künstlerischer Qualität. An einigen seiner Arbeiten gehe ich täglich vorbei. Sie hängen in der Oberbürgermeistergalerie der Stadt Braunschweig.
1953 legt Voigt sein Staatsexamen in Berlin ab und geht für einige Zeit auf Studienreisen durch Europa. Nach dem Ende des Studiums und den Reisen kehrt Voigt 1956, zehn Jahre nachdem er Braunschweig verlassen hat, an die Werkkunstschule zurück, um im Alter von erst 31 Jahren die Leitung der Abteilung für Malerei zu übernehmen. Zwar die kleinste Abteilung, aber sie entfacht in der Öffentlichkeit das größte Interesse. Bereits nach zwei Jahren Lehrtätigkeit hat er sich als Künstler soweit etabliert, dass er nicht nur viele Persönlichkeiten der Gesellschaft porträtiert, sondern auch Aufträge für „Kunst am Bau" in Braunschweig und weit darüber hinaus erhält.
Darunter Wandmalereien und Fassadengestaltungen für unterschiedliche ööfentliche Gebäude, bis zur Ausstattung von Hapag-Lloyd-Schiffen.
Hinzu kommt seine eigene, kontinuierlich entstehende bildnerische Produktion, die er in vielen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland zeigt.
Während in der Phase nach dem Examen und den Studienreisen, Mitte bis Ende der 1950er Jahre, Gemälde mit expressivem Duktus, pastosem Auftrag und leuchtender Farbpalette mit intensiven Rot- und Orangetönen entstehen, die sich ebenso wie seine frühen Landschaften durch eine leuchtende Farbintensität auszeichnen, die den unbeschwerten Blick eines jungen, wilden Künstlers vermuten lassen, wird sein Farbkanon im Laufe der Jahre gedeckter, sein Farbauftrag lasierend, seine Sujets sensibler, seine künstlerischen Aussagen kritisch bis auflehnend.
1980 beginnt der erste Golfkrieg, in diesem Jahr malt Peter Voigt das großformatige Bild Weinende Frauen. Ich weiß nicht, ob dieser Krieg für ihn der oder ein Impuls war, dieses Bild zu malen. Oder ob es biografisch disposionierte Erinnerungen sind. Voigt stellt die vier dunkel gekleideten Frauen im Hochformat nebeneinander, den Bildraum als Ganzfiguren ausfüllend, auf eine schwarze beinahe monochrome Fläche, die den Bildaufbau am unteren Bildrand abschließt und stabilisiert. Es scheint, als stünden sie auf einem Sockel, oder an einem offenen Grab, in das wir als Betrachter indes nicht schauen können. Wir wissen nicht, wen oder was sie beweinen. Ihre Physiognomien sind schemenhaft, es sind keine Porträts und solcherart wird dieses Bild zu einer Form überzeitlicher Trauer – mit einem hohen Maß der Option sich als Betrachter identifizieren zu können – bis in die Gegenwart.
In den späten Jahren sind es mehr und mehr Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit, die er zu seinen zentralen Themen macht, wie es auch diese Ausstellung eindringlich aufzeigt.
Unmittelbar nach seinem Amtsantritt als Rektor der Hochschule schließt Peter Voigt demonstrativ die Abteilung für Bildwirkerei / Bildstickerei von Karl Wollermann und schneidet damit sprichwörtlich „alte Zöpfe“ ab. In die Räume verlegt er die Bibliothek. Er fordert öffentlich mehr Personal, mehr Werkstätten, mehr Ateliers, beginnt mit dem Aufbau der Filmklasse und schafft es, dass die SHfBK wissenschaftlichen Hochschulen gleichgestellt wird. 1968 lädt er bedeutende Künstler wie Joseph Beuys, Konrad Klapheck, Horst Antes oder Gerhard Richter zu „Werkstattgesprächen“ ein. Ganz ohne Zweifel hätte die HBK ohne Peter Voigt diese Transformation nicht in diesem Maße erlebt. Für ihn sind Fragestellungen nach der gesellschaftlichen Relevanz in der Kunst und gesellschaftspolitische Forderungen elementar. Er macht sie zum Thema seiner Hochschulpolitik und sie sind mit den Inhalten seiner Gemälde und Grafiken jener Jahre kongruent.
Hermann Albert, ein Schüler Voigts und späterer Kollege, schreibt 1997 „Du warst nicht nur ein meisterlicher Maler, sondern auch ein guter Lehrmeister!“ Aber Voigt war weit mehr als ein Lehrmeister. Sein künstlerisches Werk ist ein Spiegel der Zeit, das weit über die Zeit hinauswirkt.
Voigts künstlerische Handschrift ist unverkennbar; einerlei ob in der Grafik oder seiner ebenso virtuosen Malerei. 1989, ein Jahr vor seinem Tod, entstehen zwei großformatige Gemälde, die auch hier in der Ausstellung zu sehen sind. Die Arbeit Zwei Figuren und Somnambul.
Über das Bild Zwei Figuren habe ich lange nachgedacht. Zwei nackte Männer sind es, die Peter Voigt formatfüllend vor eine nicht näher definierbare Raumkonstruktion setzt. Der Blick beider ist direkt auf den Betrachter gerichtet und dennoch bleiben ihre Identitäten verborgen, es sind keine Portraits, keine identifizierbaren Personen, weil Voigt die Züge der Gesichter mit seinem Duktus so stark übermalt, dass lediglich anhand der Darstellung der Körper erkennbar wird, dass sie unterschiedlichen Alters sind. Sind auch ihre Haltungen nahezu identisch, zeigt Voigt die linke Figur älter. Erkennbar an den bereits erschlaffenden Muskeln, dem sich altersbedingt vorwölbenden Bauch, den gelenkten Extremitäten, der Kahlköpfigkeit. Die rechte Figur hingegen ist jung, schlank, muskulös. Beide sitzen vermeintlich teilnahmslos nebeneinander, kommunizieren nicht durch Zugewandtheit, sind gestenlos, aber sie stehen in einer Beziehung zueinander. So, als warteten sie gemeinsam auf etwas, oder als ruhten sie sich nach Erlebten gemeinsam aus. Ihre Hände sind jeweils auf den Oberschenkein abgelegt, den Oberkörper abstützend.
Den Topos des verlorenen Alter Ego apostrophiert Peter Voigt in seinem gesamten Werk oft und damit eindeutig mit der Formel „Zwillinge“. Aber es kommen auch Titel wie Tagebuch oder bei anderen Arbeiten zu diesem Themenkomplex Titel wie Album oder auch direkt Mein Bruder und ich vor. Dieses Gemälde trägt zwar den lapidaren Titel Zwei Figuren. Aber in diesem Bild offenbart sich für mich noch etwas anderes. So etwas wie eine unumstößliche Einsicht, dass zwei Menschen sich durch das Alter zwar körperlich voneinander entfernt haben, aber dennoch verbunden sind.
Die Einsamkeit in Peter Voigts Kunst hat einen Namen. Jochen Voigt. Beide sind sie künstlerisch sehr begabt – und müssen, nachdem sie mit 17 Jahren bereits gemeinsam die „Meisterschule des gestaltenden Handwerks“ in ihrer Heimatstadt Braunschweig für ein Jahr besuchen, auch gemeinsam in den Krieg, den der Bruder nicht überlebt. Man muss kein Experte der Zwillingsforschung sein, um zu ahnen, dass dieser Verlust ihn nie mehr loslassen und schließlich zu einem wiederkehrenden Topos in seinem gesamten künstlerischen Werk werden soll. Peter Voigt portraitiert den Bruder und sich als Kinder, wählt den formalen Rahmen eines Fotoalbums. Wie es sein muss, sich jeden Tag im Spiegel zu sehen und damit jeden Tag dem Bruder zu begegnen, vermag man sich vermutlich indes nicht vorzustellen.
Hermann Albert schreibt im Jahre 1997, sieben Jahre nach den Tod von Peter Voigt, über dessen Zyklus der Familienbildnisse und damit auch inhärent zu den Arbeiten, die das Trauma des Bruderverlusts thematisieren: „Diese Bilder erinnern uns daran, dass wir nichts vergessen dürfen. Diese Bilder bringen zum Ausdruck, dass wir nicht nur Zukunft haben, sondern auch Vergangenheit. […] nicht nur goldene, glorreiche, gute – sondern auch finstere, schlechte, schreckliche.“
Lothar Romain umreißt diesen Teil des Werks von Voigt so virtuos, dass dieser Text an dieser Stelle voll zitiert sei: „Dieses Thema durchdringt – mit wenigen Ausnahmen – das gesamte bisherige Werk – und zwar in den unterschiedlichsten Ausformungen. Die Beschäftigung mit den Zwillingen, die im Bild einander nicht mehr anschauen können und selbst Imagination, Erinnerung gleichermaßen wie Vorstellung, nicht mehr als versöhnliche, tröstliche erscheinen lassen, gehört ebenso dazu wie der Reflex auf die Judenvernichtung in den Bildern der späten sechziger und der siebziger Jahre.“
Peter Voigt selbst hat einmal über seine Arbeit grundlegend gesagt: „Mir geht es um das Kontinuum in der Kunst. Tiefe muss außen, in der Malerei also, spürbar werden. Die Themen meiner Bilder führen – so hoffe ich – auf die Spur der Auseinandersetzung. Sie sind ausschließlich figurativ, Menschen in Kommunikation, auch in der Unfähigkeit zum verstehenden Miteinander.“ Und in diesem Zusammenhang sehe ich u.a. auch das Gemälde Somnambul.
Somnambulismus ist eine Schlafstörung und gehört zu der Untergruppe der Parasomnien. Man geht davon aus, dass es sich beim Schlafwandeln um eine Störung des Aufwachmechanismus handelt, der abweichend vom Verhalten der meisten Schläfer zu nicht bewussten psychomotorischen Aktivitäten und zum Aufstehen führt. Somnambulismus tritt nur in Tiefschlafphasen auf, nicht in den Traumphasen.
Nicht unbedingt nur als Schlafstörung ist der mit dem Nachtwandeln verbundene veränderte Bewusstseinszustand zu bewerten, den Peter Voigt hier darstellt. Eine Figur mit starren Extremitäten und starrem Blick nach rechts gehend, so als würde sie die Szenerie verlassen wollen. Beim Schlafwandeln sind die Augen grundsätzlich starr geöffnet, das Gesicht ist ausdruckslos, die Koordination der Bewegungen mangelhaft, die Orientierung ist eingeschränkt. Voigt integriert alle Verhaltensmuster eines Schlafwandlers in diesem Bild. Hindernisse werden oft nicht wahrgenommen; es kann zu Treppenstürzen kommen, aber auch zum Sturz vom Balkon oder aus dem Fenster. Daher sind Schlafwandler prinzipiell unfallgefährdet. In diesem Kontext bekommt die Figur am unteren Bildrand, die nur angeschnitten erscheint, eine besondere Bedeutung. Schlafwandler sind ansprechbar. Die Figur unten aber scheint lediglich zu beobachten. Wir können nicht erkennen, ob der Schlafwandler einer Gefahr entgegengeht, oder ob die Figur unten links nichts anderes macht als zu warten, bis die Gefahr übermächtig wird und sie einschreiten muss um Schlimmeres zu verhindern, aber es ist eine gewisse undefinierbare Ambivalenz in der Szenerie: Wartet sie um zu helfen, oder schaut sie nur zu, wenn das Unheil seinen Lauf nimmt.
Eine Formel der Hilflosigkeit des Individuums. So dissonant die gesellschaftliche Entwicklung in seinem viel zu kurzen 65 Lebensjahren auch war, in seinem küstlerischen Werk hält Voigt an der menschlichen Figunr als zentralem Bezugspunkt fest. Die erdrückende Einsamkeit des Einzelnen, obwohl inmitten großer Gruppen. Die Verlorenheit des Menschen ist das konstante Thema seiner Arbeit.
Wie er die menschliche Figur immer aufs Neue gestaltet und sich an ihr abarbeitet, lässt ihn in einer Reihe als figurativer Künstler durchaus mit Max Beckmann oder Karl Hofer stehen. Realisten, die mit gesellschaftlichen Panoramen, ebenso wie mit subtilen Portraits und bildnerischen Gleichnissen, die Kunst des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben. Seine Palette erinnert auch an die Bernhard Heisigs.
Peter Voigt als Hochschullehrer. Der Einfluss Peter Voigts auf seine Schülerinnen und Schüler war groß. An der HBK war sofort zu erkennen, wer bei ihm studiert hat.
Ohnehin durch seine stringenten Korrekturen, wie Albert sie schon aus seiner Studienzeit beschreibt. Das ändert sich ganz offenbar auch über die Jahrzehnte nicht. Immer pünktlich, immer unerbittlich, immer mit dem Mundstück seiner Pfeife über die Leinwand um Falsches nachdrücklich einzukreisen oder gar zu eliminieren. Das Atelier von Voigt in der HBK war kein offenes. Es bedurfte einer Einladung und die Begegnungen mit seiner Kunst auf den Staffeleien war überwältigend. Die sicher nachhaltigste und maßgebliche Beeinflussung funktionierte über die eigene Zeugenschaft der Entstehung seiner Kunst.
Peter Voigt war bescheiden, trug sein Herz nicht auf den Lippen, war mitunter ironisch, aber immer ehrlich, war ein mehr als nur guter und geduldiger Lehrmeister, und zeigte sich dann und wann auch von einer sehr humorvollen Seite. Ich hatte in unserem Atelier in der Leisewitzstrasse / Ecke Wolfenbüttler, auf der Staffelei einen Trommler mit hochgereckten Armen und blauer Uniform auf eine rot-weiße Trommel eindreschend, stehen. Peter Voigt kam rein, fragte: „Wer hat das gemalt?“ Ich antwortete. Und Peter Voigt sagte: „Das brauchst Du nicht zu malen. Beckmann hat einen Trommler gemalt und ich auch. Meiner ist besser.“
Unser Atelier in der Leisewitzstraße war in einem total heruntergekommenen Haus. Aber wir fanden es dort schön. Die Kneipe „Zum Kuckuck“ war gleich um die Ecke, wenn es abends spät wurde. Voigt kam jeden Montag, immer sehr früh. Da hatte man da zu sein. Er kam immer, bei Wind und Wetter. Er beschwerte sich darüber, wie wir die Bude immer weiter runterrockten. „Guckt euch dieses Waschbecken an: Sowas von dreckig. Kein Mensch kann hier seine Pinsel richtig waschen“, nur um sich beim Umdrehen vor der Leinwand weiter zu ärgern, über schlecht gemörserte Pigmente, die Klümpchen auf der Leinwand hinterließen und die er mit dem Mundstück energisch wegkratzte.
Der Einfluss Peter Voigts auf seine Schülerinnen und Schüler war groß. Menschlich und künstlerisch.
Er korrigierte streng, war nur selten zufrieden. War er es mal, setzte er sich auf den einzigen freien Stuhl und plauderte gerne ein paar Minuten. Dann musste er zur nächsten angemieteten Immobilie der HBK. Die Geschichte des Hauses war in unseren Staffeleien eingebrannt: SHfBK. Kein Mensch wusste, was das bedeuten sollte. Wir hätten Peter Voigt fragen können, er hätte uns erzählen können, wie aus einer Provinzschule eine angesehene Kunstinstitution, eine Akademie wurde. Und er selbst war es, der daran mitgetan hat. War ihr Spiritus Rector, hat Enormes beigetragen um aus der Werkkunstschule eine Akademie zu machen mit Prüfungs- und Promotionsrecht.
Ich hätte mir sehr gewünscht, ich hätte ihm erzählen können, was ich bei ihm gelernt habe und wie wichtig es für mich immer noch heute ist. Mein künstlerisches Talent hat nicht ausgereicht, um davon leben zu können, aber das, was er mir beigebracht hat, reicht um Künstlerinnen und Künstler zu verstehen. Er hat mich aufs Äußerste sensibilisiert. Unter anderem durch seine tiefe Abneigung gegen das NS-Regime und ich bin bis heute sehr stolz darauf, bei einem Künstler studiert zu haben, dessen Arbeiten in vielen Sammlungen deutscher Museen und im Privatbesitz zu finden sind.
Ich möchte mich bei Dir, liebe Jessica, sehr herzlich bedanken, dass du mich einen tiefen Blick in das Leben und Werk meines akademischen Lehrers hast gewähren lassen.
In das Werk einer hoch anerkannten und angesehenen kpnstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts mit einem eigenen, autonomen und in seiner Vielfalt bemerkenswerten Œuvre.
Anja Hesse
Eröffnung der Ausstellung Peter Voigt. Wider / Spiegelungen am 22.06.2025 im Kunstverein Wolfenbüttel. (Abdruck in gekürzter Version im Ausstellungskatalog Peter Voigt. Wider / Spiegelungen, Kunstverein Wolfenbüttel, 2025, o. Sz.)