PETER VOIGT

Die Tiefe an der Oberfläche

Was die eigene Person betrifft und ihre Geschichte, ist Peter Voigt mehr als zurückhaltend. Da sind ihm oft dürre Daten schon zu geschwätzig, während er über Aufgaben und deren Probleme – funktionale wie künstlerische – bereitwillig Auskunft gibt. Man hat den Eindruck, dass der Maler am liebsten hinter seinen Bildern entschwinden würde: hier habt ihr die Ergebnisse, kein Kommentar! Ein Künstler-Darsteller, wie Szene und Markt ihn lieben, ist er nie gewesen und auch kein Selbstdarsteller, was seine Bilder bezeugen. Man kann vieles in ihnen lesen, nur nichts über die jeweilige Befindlichkeit ihres Schöpfers. Auch da hält er sich an die Aufgabe, an Sujet bzw. Thema, die ihn verpflichten, nicht umgekehrt. Malerei ist für ihn kein Momenttagebuch. Es gibt wenig an Selbstäußerungen und Kommentaren zur Arbeit von Peter Voigt. Lange Jahre hat er kaum ausgestellt. Von 1962 bis 1981 gab es keine Einzelausstellung. Dass er dennoch insistent weiter gemalt hat, bezeugen nicht nur dieser Rückblick, sondern auch die unregelmäßigen Beteiligungen an Gruppenausstellungen, unter anderem an denen des Deutschen Künstlerbundes. Voigts Zurückhaltung bei seiner Darstellung nach außen hat viel mit seinem Beruf als Hochschullehrer für Freie Malerei an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und seiner langjährigen Tätigkeit als Rektor bzw. Prorektor derselben zu tun: Die Aufgaben haben ihn eingespannt. Er konnte und wollte sich nicht vielteilen.

Immer wieder führen die Versuche, Leben und Werk eines Künstlers in eine geordnete Reihe gegenseitiger Erklärungen zu bringen, zu Schieflagen und Missverständnissen. Und doch darf man die Biografie nicht völlig ausklammern. Auch Peter Voigt akzeptiert, wenn man von der prägenden Rolle seines Elternhauses spricht. Diese zu beschreiben ist ihm kein Wort zu viel, vor allem was die Haltung betrifft. Eine Kindheit und Jugend im Wechsel von Weimar zum Nationalsozialismus. Das Elternhaus sozialdemokratisch, der Vater als Lehrer von den Nazis entlassen. Politik, auch deren verbrecherische Version, wird von den Kindern nicht ferngehalten. Es habe ihn später immer wieder überrascht, sagt Peter Voigt in einem Gespräch, wenn andere sagten, sie hätten nichts gewusst, hätten ja auch keine Informationen gehabt. „Man konnte es wissen!“ Das ist eine Erfahrung, die sein Leben bestimmt hat. Schon früh interessierte er sich für Zeichnen und Malen, aufwachsend allerdings nur in der Kenntnis ‚billiger Abbildungen‘ von der als entartet verfemten Kunst der klassischen Moderne. Die Eltern beschäftigten sich mehr mit Literatur. Den wenigen Beispielen der modernen Malerei, die man kannte, begegnete man mehr mit der Sympathie für das Verfemte, auch Widerständige, als mit Aufmerksamkeit oder gar Kenntnissen für deren künstlerische Probleme. Das waren inhaltliche, nicht ästhetische Aspekte. Peter Voigt ist dem insofern bis heute gefolgt, dass er die gleichrangige Bedeutung des Inhalts nie in Frage gestellt hat. Diese Einstellung ist mit ein Grund für seine enge Bindung an die gegenständliche Malerei.

Das Elternhaus hat ihm eine Vorstellung von Gesellschaft mitgegeben; dazu gehört das Wissen um die Bedeutung von Aufklärung und Kommunikation, um die notwendige Anstrengung, in dem jeweils anderen auch das ‚Alter Ego‘ zu sehen. Im engsten Familienbereich hat Peter Voigt das auf besondere Weise erfahren. Er war ein Zwilling mit all den spezifischen Wechselbeziehungen zwischen solchen Geschwistern. Der Schock seines Lebens war zweifellos, dass der Zwillingsbruder in seinem Beisein gefallen ist. Darüber spricht er nicht, aber malt über das Thema Bindung, Kommunikation und Verluste derselben, bis der Pinsel wund wird. Das hat, genug der Indiskretion, den Menschen gebeutelt und den Künstler umgetrieben. In den freien Stunden zwischen Aufgabe und Funkion hat er immer wieder an seinen Bildern gearbeitet, vielfältig interessiert, offen für die unterschiedlichsten Anregungen.

Doch nur auf den ersten Blick scheinen diese auf den jeweils einzelnen Fall fixiert zu sein und von Ereignis zu Ereignis zu berichten. Der Maler selbst agiert mit Schutzbehauptungen, um sich vom Konzeptuellen abzusetzen, ja freizusprechen, damit niemand auf die Idee komme, dass er einem Vorsatz folgt. Er sei, so hat Peter Voigt gesagt, nie an der Entwicklung von Bildserien interessiert gewesen, sondern immer erneut getragen von Motiven und Ereignissen. Und doch lassen sich jenseits der Sujets durchgängige Themen in seinen Bildern ausmachen, wovon das zentrale wohl das von Gesellschaft und Kommunikation bzw. Kommunikationslosigkeit ist und der – nicht beantwortbaren – Frage nach Identität, dem Ich und dem Du. Immer wieder erscheinen bei ihm Menschengruppen in Situationen, die eigentlich zum Gespräch, zu kommunikativem Handeln animieren. Das betrifft das frühe Bild Im Café (1952) ebenso wie z.B. die verschiedenen Versionen von Narrenschiff (1982 und 1983). Menschen sind in einem Raum zusammengeführt, auf einem Raum zusammengedrängt: gemeinsames Reden, gemeinsames Feiern ist angesagt. Doch selten sehen wir auf diesen Bildern, dass es tatsächlich die ersehnten, gesuchten Kontakte gibt.

Im Café, der Malart nach deutlich geprägt von den nach dem Kriege erst gesehenen, vor allem auch erlebten Originalen des späten Expressionismus, sitzen die jungen Menschen seltsam statisch an den Tischen, zeichenhaft, ohne jeden Anflug von Intimität und oder nur Gemütlichkeit, eher befremdet aus dem Bild herausschauend, ein jeder mehr mit sich als mit den anderen beschäftigt, buchstäbliches Nebeneinander- anstelle von Miteinandersitzen in kantigen Abgrenzungen. Das Thema, im Rückblick schon hier ablesbar: der Wunsch nach Austausch, weshalb man ein Café aufsucht, und die sichtlichen Schwierigkeiten damit. Auch für die dann folgenden Arbeiten gilt: die Sujets wechseln, ihr Thema scheint immer wieder auf, ob beim Auseinanderfliegen auf dem Rotor (1955) oder am Fließband – eine frühe Orientierung, innerhalb derer sich die unterschiedlichen Impressionen zu problembewusster Darstellung wandeln. Das lässt sich, dann in entwickelten, komplexen Aspekten, bis in das letzte Jahrzehnt, ja bis zu seinen jüngsten Bildern verfolgen. Auch die Gestalten z.B. in den verschiedenen Versionen von Narrenschiff (1982 und 1983) halten Distanz durch Masken, sehen einander nicht an, obwohl sie offensichtlich miteinander feiern wollen und dichtgedrängt in einer Gondel sitzen, so dass sie sich eigentlich gar nicht ausweichen können.

„Mir geht es um das Kontinuum in der Kunst“, hat Peter Voigt einmal geschrieben. „Tiefe muss außen, in der Malerei also, spürbar werden. Die Themen meiner Bilder führen – so hoffe ich – auf die Spur der Auseinandersetzung. Sie sind ausschließlich figurativ, Menschen in Kommunikation, auch in der Unfähigkeit zum verstehenden Miteinander.“ (Katalog Profile, Impulse 4, Niedersächsische Künstlerstipendiaten 1988 – 1990). Dieses Thema durchdringt – mit wenigen Ausnahmen – das gesamte bisherige Werk – und zwar in den unterschiedlichsten Ausformungen. Die Beschäftigung mit den Zwillingen, die im Bild einander nicht mehr ansehen können und selbst Imagination, Erinnerung gleichermaßen wie Vorstellung, nicht mehr als versöhnliche, tröstliche erscheinen lassen, gehört ebenso dazu wie der Reflex auf die Geschichte der Judenvernichtung in den Bildern der späten sechziger und der siebziger Jahre oder schließlich das Fast-Diptychon Judenfriedhof in Prag I (1989) und Judenfriedhof in Prag II (1990). Trotz der durch Erfahrung bedingten Veränderungen in der Bildsprache, worüber noch zu reden sein wird, sind sie alle Aspekte einer Vorstellung (Utopie?) und zugleich der überall zutage tretenden Defizite, nämlich der Sehnsucht nach Kommunikation und der verpassten Chancen bzw. der Unfähigkeit dazu. Diese Bilder sind Vergegenwärtigungen von Vergangenheit einerseits als präsentes Trauma, anderseits trotz allem aber auch noch spürbarer Widerschein er Hoffnungen und Möglichkeiten. Das Bild (1977) z.B. birgt beides.

Peter Voigts Bilder beschwören nie ausschließlich ein Faktum, als gäbe es kein Entrinnen. Aber es gibt auch keine Morgenröte des Vergessens. Seine Bilder halten eher in der Schwebe, z.B. eines großen Festes (siehe Ein Fest in Alexandria, 1965) oder in unterschiedlichen Momenten eines Prozesses wie der Massenvernichtung (siehe Geschichtsbuch I, 1976) Die Bilder sind immer in zwei entgegengesetzten Richtungen zu lesen, manchmal metrisch im Duktus des Vor- und Zurückblätterns (siehe die ‚Buchbilder‘ wie Tagebuch I, 1970) oder auch taktisch im Sinne des Gondolieres, der im Ruderschlag die Masken näherbringt; schubweise, im Zeittakt (siehe Narrenschiff, 1983). Peter Voigts Bilder sind weder eindeutig statisch noch dynamisch. Was der Bildaufbau festhält und eher zur Ruhe zwingt, gerät unter der Bewegung des Malens in Aufruhr, ohne doch explodieren zu wollen. Das ist gleichermaßen formal wie inhaltlich dargestellt. Noch einmal das Beispiel des Narrenschiffs. Darauf fährt, wie in übereinander geschichteten Sekundenaufnahmen, die Maskengesellschaft aus dem Bild heraus auf uns zu. Der Gruß nach vorne mit dem Tamburin trifft uns ebenso wenig wie die Blicke der Narren. Sie nähern sich und bleiben doch auf Abstand. Das jenseitige Ufer, woher sie kommen – man ahnt Venedigs Maria della Salute –, ist schon fern. Aber der Weg ist keiner ohne Rückkehr; er ist umkehrbar, wie drei Gondeln bezeugen, deren Spitzen in die obere Bildhälfte hineinragen und in Richtung der fernen Kirche zeigen. Wäre die kaum mehr sichtbare Kirche ein Ort verschwindenden Heils, so bliebe die Hoffnung auf Rückkehr, auch wenn man nicht weiß, was bis dahin alles aus heiliger Stätte geworden sein kann. Und auch die Gesellschaft selbst hat zwar keinen Kontakt zum Betrachter, aber untereinander doch nicht alle Bindung verloren. In der Mitte der Gondel jedenfalls sitzt ein Narrenpaar, die Frau auf dem Schoß des Mannes. Er hat keine Maske auf und hält sie mit seinen Armen fest umschlungen, um allen Abstand aufzuheben. Sie wiederum hat ihre Maske so gelüftet, dass sie nun janusköpfig erscheint: zwei Gesichter, eine Person. Auch das reicht über den bloßen Karneval weit hinaus. Die Wirklichkeit der Narren wird so zur vieldeutigen Metapher, die auch für das mögliche andere im Sinne neuer Identität stehen kann; denn, so Adorno: „Vor den Begriffen des Gesunden und Kranken, ja den mit ihnen verschwisterten des Vernünftigen und Unvernünftigen selber vermag Dialektik nicht haltzumachen. Hat sie einmal das herrschende Allgemeine und seine Proportionen als krank – und im wörtlichen Sinn, gezeichnet mit der Paranoia, der ‚pathetischen Projektion‘ – erkannt, so wird ihr zur Zelle der Genesung einzig, was nach dem Maß der Ordnung selber krank, abwegig, paranoid – ja als ‚verrückt‘ sich darstellt, und es gilt heute wie im Mittelalter, dass einzig die Narren der Herrschaft die Wahrheit sagen.“ (Th. W. Adorno, Minima Moralia, „Wie scheint doch alles Werdende so krank!“). Diese Hoffnung jedenfalls ist nicht nur eine formal dialektische, sondern eine konkret inhaltliche, was die Entscheidung Peter Voigts für die gegenständliche Malerei weiter erhellen mag.

Zur Dialektik des Gesamtwerks gehört hier allerdings auch die Beschäftigung mit dem Einzelportrait, das den Maler über all die Jahre immer wieder herausgefordert hat. Er hat, wie seine Zwillingsbilder zeigen, die Frage nach Kommunikation als eine Frage immer auch nach dem Alter Ego begriffen. Die Kommunikationsschwierigkeiten stellen sich in seinen Bildern oft als Unfähigkeit des Hinsehens dar. Das muss den Künstler herausfordern, zumal er selbst ja Teil der Wirklichkeit ist, die er ins Bild zitiert. Die Arbeiten an Portraits werden so immer wieder zu „Stunden der Wahrheit“. Inwieweit, so die Frage, reicht die Genauigkeit des Hinsehens noch hin, in Kontakt mit einer Person zu kommen, ja das mögliche Ganze eines Individuums zu erfassen. Und inwieweit beinhaltet das Vertrauen auf das Sinnliche, was Malerei ausmacht, nicht im dialektischen Umschlag auch die Gefahr des Vereinfachens und Unterdrückens zugunsten einer sorgfältigen Wiedergabe der Oberfläche. Die Janusköpfigkeit jedenfalls droht auch hier. Das Malen an einem Gesicht schließt ein die ungeheure Anstrengung, gegen die vielen Gesichter anzumalen, die alle in verschiedene Richtungen schauen wollen, ohne sie doch alle verschweigen zu wollen.

Peter Voigt hat seinen Themenkomplex insistent eingekreist, aber nicht in geradlinigem Fortschreiten expliziert. Malerei, das zeigt sich auch in seiner Arbeit, folgt dabei anderen Gesetzen als ein Essay. Man kann sein Werk, ohne ihm dezidierte Überschriften geben zu wollen, in Abschnitte einteilen, die ungefähr dem Wechsel der Jahrzehnte entsprechen. Hier unterscheidet er sich nicht von der allgemeinen Entwicklung der zweiten Moderne, die sich ebenfalls in Dekadenschritten beschreiben lässt, alle Parallelerscheinungen und Überschneidungen eingerechnet. Doch Voigt folgt nur insofern diesem Zeittakt, dass auch er an den jeweiligen Jahrzehnt wenden neue Aspekte seiner Bildsprache entdeckt. Diese sind merklich, wie Anfang der sechziger Jahre ein zunehmendes Interesse für Abstraktionen in einer gleichwohl grundsätzlich noch gegenständlich orientierten Bildwelt, aber sie sind keine radikalen Brüche, gar Konzessionen an den ab den sechziger Jahren dominanter werdenden Kunstmarkt. Im Hinblick auf den Avantgarde-Begriff der zweiten Moderne ist Peter Voigt ein konservativ moderner Künstler, darin dem anderen, nicht-kubistischen Picasso foIgend, der die Moderne auch als einen Reflex auf die Kunst- bzw. Bildgeschichte und die Entwicklungsbegriff und nicht einzig als einen pausenlosen Innovationsprozess. Picasso, Beckmann, Schlemmer, aber auch Chagall haben den Maler Peter Voigt schon früh beschäftigt, ohne dass er sich auf Vorbilder festlegen Iassen möchte. Das meint er nicht eitel, sondern im Gegenteil bescheiden. Er mag sich nicht in den Schutz der Großen begeben, damit man ihn als Enkel anerkenne. So viele einzelne und vor allem unterschiedliche Bilder haben ihn beschäftigt, dass er die Stile oder Trends darüber vergaß. Das ist typisch für die Nachkriegssituation und ihren wahrhaftigen, vielfräßigen „Hunger nach Bildern“.

In Hamburg hat Peter Voigt Grafik und Gebrauchsgrafik studiert, in Berlin Malerei und Kunstpädagogik. Seine Entwicklung als Maler hat ihn allerdings nicht daran gehindert, weiterhin immer wieder sich im Bereich des Zeichnens und der Druckgrafik zu betätigen. Das bleibt für ihn ein selbständiges Medium. Selten, dass er die Zeichnung als Skizze für ein Bild gebraucht. Bilder, so sagt er im Gespräch, beginnen für ihn selten mit einer genauen Vorstellung, sondern in der Regel mit einem Pinselstrich, dem viele folgen, bis sie sich zu einer gegenständlichen Szenerie verdichten. Das hört man auch deshalb mit Spannung, weil im Beginn offenbar kein Unterschied besteht etwa zur Malerei des Informel, zu der Voigt für sich nie einen Zugang gesucht hat. Die Ziele sind schließlich doch zu unterschiedlich; denn während der informelle Maler sich noch lange der peinture automatique anvertraut, um über die Spontaneität malerisch in unbekannte Zonen des Unter- bzw. Vorbewussten vorzustoßen, folgt Peter Voigt alsbald gegenständlichen Orientierungen. Er bindet seine Malerei daran, wohl auch, um nicht der Beliebigkeit anheimzufallen, wie sie freie Gesten häufig aufweisen. Die Spätphase des Informel ist dafür voller Beispiele. Für Voigt mag solche Einschränkung zunächst Schutz sein, aber sie bedeutet auch Mut, weil umgekehrt die Gegenständlichkeit den Maler schnell zur Literarisierung seiner Themen verführt. Bindung an die Gegenständlichkeit bedeutet nicht Vertrauen in den äußeren Schein, bedeutet auch nicht Verzicht auf das Transzendente. „Wenn man das Unsichtbare begreifen will“, hat Max Beckmann in einem Vortrag gesagt „muss man so tief wie möglich ins Sichtbare eindringen. – Mein Ziel ist immer, das Unsichtbare sichtbar zu machen durch die Wirklichkeit. Es klingt vielleicht paradox, aber es ist tatsächlich die Wirklichkeit, die das Geheimnis unseres Daseins bildet. – Deshalb brauche ich kaum abstrakte Formen, denn jeder Gegenstand ist bereits unwirklich genug; so unwirklich, dass ich ihn nur durch Malerei wirklich machen kann.“ (Zitiert nach W. Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbek, 1956, S. 108.) Hier trifft sich Peter Voigt mit Beckmann, wenn er für seine Malerei sagt, er beobachte, wo die Dinge ihren Sprung von der Banalität in ihre eigene Bedeutung machen. Auch ihm geht es nicht um bloße Ansicht, sondern um das, was darüber hinausgeht. Jedoch haben sich die Vorzeichen gewandelt: Die ins Mythologische reichende Weltsicht Beckmanns erscheint bei Voigt ‚nur noch‘ als Maskerade, als Stunde der Gaukler, als Pose, die eher dem Lächerlichen aIs dem Pathetischen verwandt ist (siehe Große Geste, 1987). Wenn bei Beckmann im großen Abfahrt-Triptychon noch ein König vom Gestade loslegt, dann bleibt bei Voigt in der Reihe der Narrenschiffe nur noch der Geck, tragikomisch seiner bedrängten, umstellten Einsamkeit, aber zugleich auch nur traurig in der Trivialität der Umstände.

Zwei Weltkriege sowie der Faschismus und seine noch immer nicht völlig verarbeiteten Folgen bis in die Gegenwart haben der gegenständlichen Malerei die großen Themen der Weltgemälde wohl endgültig genommen. Die Totalität der Wirklichkeit mit all ihren Konsequenzen ist bildlich kaum einzuholen Selbst die mit gewaltigen Gesten und mythologischen Versatzstücken auftretenden heftigen oder wilden Maler der achtziger Jahre arbeiteten mehr mit dem attraktiven Schein des beliebig gewordenen Requisits denn mit dem Willen zur malerischen Welterforschung. Gemessen an beiden, dem klassischen Pathos und der postmodernen Attitüde, bleibt Peter Voigt in der Wahl seiner Sujets und der Darlegung seines Themas zurückhaltend – nichts von Weltentwurf und nichts vom Blow up der Befindlichkeit, auch nichts von der bis in die malerische Raffinesse hinein spürbaren Selbstgewissheit des sogenannten kritischen Realismus. Und doch zeigt – siehe oben – die Trivialität stets ihre Janusköpfigkeit, wird erst als gemalte „wirklich“ und bringt insofern, Beckmann folgend, das Unsichtbare zu Form und Farbe. Was die Farbe betrifft, die laut Beckmann „dem Leben untergeordnet“ zu sein hat „und vor allem der Behandlung der Form“, so lässt sich diese Maxime mit Abweichungen auch auf das Werk von Peter Voigt anwenden. Die Farbe, auch deshalb suchte er nicht das Informel, steht in seinen Bildern nie für sich selbst da, durch ihre eigene Materialität die Form ersetzend. Sie ist allerdings, mit einer Tendenz zu gebrochenen, selten lauten Tönen, ein wesentliches Bauelement in der Bildarchitektur. Ölfarbe ist das Material. Schicht auf Schicht gesetzt, geht es Peter Voigt nicht um eine allmähliche Verschmelzung der Ebenen zur tiefgründigen Räumlichkeit, sondern eher um deren ‚scheibenweise‘ Aufteilung, also um die Verkürzung des Bildraumes. Nichts soll ins Weite sich flüchten können. Spekulationen mit dem Endlosen, Unergründlichen werden auf diese Weise programmatisch zugemalt. Die Doppelbödigkeit der jeweiligen Szene findet immer vor aller Augen statt.

Aus Beckmanns unendlichem Raum, „dessen Vordergrund man immer wieder mit etwas Gerümpel anfüllen muss, damit man seine schaurige Tiefe nicht so sieht“ (Hess, S. 109), ist eine wenig tiefe Simultanbühne geworden, auf der alles mehr neben- als hintereinander in den tiefen Raum gestellt erscheint. Die Personen treten zeitgleich auf, bestenfalls wie auf verschiedenen, aneinander gefügten, dicht aufeinander gepressten Ebenen. Schon so frühe Arbeiten wie Vor der gestreiften Wand (1955) oder Zerrspiegel (1958) sind dafür Beispiele. Die einzelnen Bildsegmente präsentieren sich als ursprünglich eigenständige Teile, die sich an ihren Rändern zu einem größeren Ganzen ineinanderschieben. Die Szenen sind nicht von einer alles umfassenden Dramatik bestimmt, sondern erscheinen eher als montierte. Die Farbe schafft häufig die notwendigen Korrespondenzen zwischen den einzelnen Partien, ohne allerdings die bewussten Trennungen aufheben zu wollen. Sie ist häufig betont als Malspur gesetzt, bewegt innerhalb ihres jeweiligen Parts, aber bleibt in einem erweiterten Sinne lokal, nicht gestisch übergreifend. So gelingt Peter Voigt beides, die Verkürzung des Bildraumes auf die Tiefe von wenigen leicht ineinander geschobenen Bildebenen und die wirksame Unterbrechung jedweden erzählerischen Ansatzes. Das wird insbesondere für die ‚Buchbilder‘ in den siebziger Jahren wichtig, findet sich aber als Grundlage des Bildaufbaus auch in den neuen Arbeiten wieder, mal mehr, mal weniger betont (siehe Theater, 1987): der Zerrspiegel ist kein Medium der Groteske, sondern mehr des Entzerrens zur Kenntlichkeit der Elemente, die sonst im alles vereinnahmenden äußeren Schein verlorenzugehen drohen.

In den Anfangsjahren seines Malens mag das weniger thematisch als formal gedacht gewesen sein, auch Aufarbeitung vielfältiger Auseinandersetzungen mit der Bildgeschichte der Moderne. Doch es zeichnet ja gerade den Maler aus, dass er über die Malerei und deren Formfragen schließlich sein Thema findet und nicht umgekehrt in der Art eines Besinnungsaufsatzes die Erklärung. Die Sujets der fünfziger Jahre sind bunt gemischt: Stierkampf, Rotor (das ‚Teufelsrad‘ auf der Kirmes), Schaukel, Stillleben mit Puppe, Löwenkäfig, Fließband usw. Und doch bindet sie schon Thematisches (siehe oben), grundlegende gemeinsame Aspekte: die Welt als Bühne, als Zirkus, als Spiel, als Zoo. Das ist die beschriebene Umkehr des großen Welttheaters ins Profane, ohne dessen Komplexität und Vieldeutigkeit unterschlagen zu wollen. Darin eingebettet liegt das Hoffen auf und das Unvermögen zur Kommunikation: die Gesellschaft als Ausstellungsobjekt, der alltägliche Zoo mit der Frage, wer da wen zu Recht als exotisch bewundert, die Puppe einerseits als Spielgefährte und andererseits als Ding, das man jederzeit ablegen kann, das Bild, das man sich von jemandem macht, als Frage nach dem Du oder als gemeiner Steckbrief (1961). In späteren Jahren kehren solche und ähnliche Bilder wieder.

Die sechziger Jahre sind eingerahmt von zwei Phasen malerischer Erinnerungsarbeit. Am Anfang steht, das Allgemeine ins Persönliche wendend, eindringlich die Suche nach dem persönlichen Alter Ego, am Ende – in die siebziger Jahre führend und diese weitgehend ausfüllend – das Problem Geschichte, genauer: die Gegenwart der Vergangenheit und die Wirklichkeit der Bilder, die Frage nach dem gesellschaftlichen Du. Die Arbeiten zum Thema ‚Zwillinge‘ erscheinen in mancher Hinsicht wie die individuelle Version vorheriger Köpfe-Bilder mit ihrem Problem der Isolation und unterbrochenen Kommunikation, siehe Steckbrief (1961) oder Fließband (1961), aber ebenso auch wie eine Engführung von Zerrspiegel (1958) bzw. Spiegelbild (1959). Insbesondere im letzteren, von beinahe durchsichtiger Oberfläche auf stumpfem Grund, ist das Problem des unerreichbaren anderen Ichs, des Spiegelbilds, dem man immer das Gesicht zuwenden muss, ohne doch jemals tatsächlich kommunizieren zu können, eindringlich dargestellt. Vom Titel ‚Zwillinge‘ her eindeutig ausgewiesen sind nur fünf Arbeiten, ein Ölbild und eine Aquatinta aus dem Jahre 1962, ein Ölbild dieses Titels von 1978 sowie zwei Ölbilder Mein Bruder und ich (1978) und Album (1977). Die letzten beiden gehören zur Gruppe der – vom Verfasser so benannten – ‚Buchbilder‘, von der noch zu sprechen sein wird, während die andere Ölarbeit von 1978 im Rahmen der bereits erwähnten eigenständigen Reihe von Portraits zu sehen ist, darin gewiss wegen des Themas eine Sonderstellung einnehmend. Dem Maler ist offensichtlich in einem Familienalbum ein Foto ins Auge gefallen, das die tatsächliche Dimension der Erinnerung nur wenig ausfüllte und deshalb zur nochmaligen Auseinandersetzung damit reizte, besser: zwang. Voigt ist an dieses Bild mit äußerster Zurückhaltung in Farbe und Formulierung herangegangen und hat es mit 80 x 80 cm bewusst klein im Format gehalten.

Die Erinnerung wehrt sich gegen die vielen Beschädigungen, die sie inzwischen davontragen musste: ein sehr persönliches Bekenntnis, aber offensichtlich als diese Nähe des Portraits nur dem Abstand durch die Zeit zu verdanken, die angeblich alle Wunden heilt. Denn in dem früheren Ölbild Zwillinge von 1962 sind bezeichnenderweise die Gesichtszüge der beiden Köpfe fast unkenntlich, als könne und wolle der Maler sich kein Bild machen, weil das Gestern noch zu nah ist. Der Schmerz ist zu nah, um ihm Gesichtszüge zu verleihen. Aber auch anders zu deuten: Wenn das andere Ich nicht mehr lebt, dann muss möglicherweise auch das eigene seine Identität verlieren. Zum Themenkreis gehört allerdings noch eine Reihe anderer Arbeiten, die sich mal enger, mal weiter um dieses zentrale Ölbild von 1962 gruppieren. Es sind Radierungen, teilweise übermalt, die manchmal fast skizzenhaft, jedenfalls mit bewusst zögerlichem Strich und alles eindeutig Festlegende vermeidend, die Frage nach Ich und Du und Schein und Sein und Verlust und Wirklichkeit der Erinnerung zeichnerisch-malerisch erforschen. In der Aquatinta Köpfe (1962) sehen wir eine Reihe von fünf kleiner werdenden Köpfen. Sie sind in rechteckigen Feldern regelrecht ausgestellt – wie in einer Schaubude, in der man danach wirft, damit sie umklappen. Und tatsächlich ist der kleinste im rechten Feld halb weggeknickt, getroffen, besiegt: welcher Preis winkt dem Gewinner? Vom größten Kopf links bis zum kleinsten verblassen zugleich immer mehr die Gesichtszüge. Der Assoziationen sind viele möglich – in allen Fällen bleibt der Eindruck von isoliertem Dasein, eingefangen jeweils in das eigene schmale Rechteck der Existenz, eine Deklination zum Verschwinden hin. Hier wird auf eine malerisch eigenständige Weise die Identitätsfrage gestellt, die gerade im Wechsel von den fünfziger zu den sechziger Jahren auch durch das Informel manchmal im wörtlichen Sinne als Farbgeste aufgeworfen worden ist.

Kennzeichnend für Peter Voigts Verständnis von Kunst ist auch hier, dass nicht vorweggenommenes Empfinden das Bild antizipiert, sondern das Problem sich erst in der Formulierung entwickelt bzw. konkretisiert. Die häufig auftretenden Sequenzen von kleinen Bildtafeln, die zu einem Ganzen zusammengefügt werden (siehe Kleine Familie (1961), Zweimal zwei (1967) sowie Tagebuch I und Tagebuch II (1970), schaffen bewusst Distanz gegenüber dem illusionären Charakter z.B. von Erinnerungsfotos. Es geht eindeutig um Bilder, also um Vorstellungen, nicht um Rekonstruktion bzw. Verdoppelung von Vergangenheit – es geht um die Wirklichkeit der Bilder. Ihr Charakter ist nicht eindeutig. Die Bilder können vieles gleichzeitig sein: Ikone (siehe Kleine Familie), auf der ein Widerschein von Transzendenz liegt, Beschwörung von Geschichte und zugleich Ausdruck ihres Verlusts. Die grafischen Linien, häufig übermalt, verstärke diesen Eindruck des Vieldeutigen, weiß man doch nie zu bestimmen, ob sie verblassende Konturen eines Kopfes, einer Person noch in einem Netz festhalten wollen oder ob sie aus dem Unsichtbaren auftauchen und langsam erst an Gestalt gewinnen. Durchdringen sie die Übermalungen, oder werden sie davon weggewischt? Die Frage nach der Identität ist auch bei Peter Voigt zunächst und vor allem an das Bild und seine Elemente und erst darüber hinaus an die Philosophie gerichtet – eine Leistung übrigens, die das damals beherrschende Informel samt seinen theoretischen Apologeten der gegenständlichen Malerei als Fähigkeit für alle weitere Zukunft rundweg absprach. Ohne diese künstlerische Aufarbeitung eines zu Beginn nur privaten Problems, das erst in der Darstellung seine allgemeine Dimension sichtbar machte, wäre die Auseinandersetzung mit der selbst noch erlebten nationalsozialistischen Vergangenheit nicht möglich gewesen. Diese, genauer: der Wahnsinn von Auschwitz, beschäftigt Peter Voigt vom Ende der sechziger Jahre an über das ganze folgende Jahrzehnt hinweg. Es ist ein eigenständiger Themenkomplex im Rahmen der Erinnerungsarbeit und wird deshalb hier in Unterbrechung einer chronologischen Darstellung vorgezogen. Über die anderen Bilder, die im Verlaufe der sechziger Jahre entstanden sind, wird anschließend in Anknüpfung an die achtziger Jahre zu sprechen sein.

Ein kurzer Rückblick auf die damalige Situation: Die Ereignisse und Stimmungslagen wechselten schnell bei uns im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren. Nur kurze Zeit schienen die Studentenunruhen auch einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel angestoßen zu haben. Wenn schon nicht auf Revolution, so war die Hoffnung doch auf radikale Reformen gerichtet. Das war das bislang letzte Aufbegehren des aufklärerischen Optimismus. Schon wenige Jahre später, die Beharrungskräfte im Zusammenwirken mit dem Ölschock hatten jedem Veränderungswillen die Luft genommen, hatte das Schlagwort ‚Nostalgie‘ Konjunktur. Die Künstler gleich welcher Provenienz zogen sich mit Freuden wieder in den Elfenbeinturm zurück, auch wenn dieser – Peter Handke folgend – nun mitten auf dem Marktplatz stand. Beiden, den Aufklärern wie den Nostalgikern, war das schreckliche deutsche Erbe aus dem Blick geraten. Die Linken verharmlosten Auschwitz, indem sie alles konservative Denken mit dem Begriff faschistisch oder präfaschistisch zudeckten. Und die Nostalgiker schauten nur in fernere Vergangenheit zurück, wo sie sich in vielfältigen Biografien dem intellektuellen Leiden an der Geschichte widmeten. Vor diesem Hintergrund müssen die Bilder von Peter Voigt gesehen und beurteilt werden, die den Holocaust umkreisen und das Beiseiteschauen derjenigen, die „nichts gewusst haben“. Wohl gehören diese Arbeiten zumindest Ende der sechziger Jahre auf den ersten Blick zum Trend der vielen damals entstehenden politischen Bilder, doch sie sind weder aus einem Modebewusstsein entstanden, noch blieben sie – wie andere – dem Illustrativen verhaftet. Tatsächlich sind sie Erinnerungsarbeit gegen die wechselnden gesellschaftlichen Stimmungen, eine Frage nach der Wirklichkeit von Bildern in einer bildüberschütteten Zeit. Auch hier sind Fotos Auslöser, schreckliche Dokumente aus Büchern wie „Der gelbe Stern“, die, wenig gelesen bzw. gesehen, meist nur in öffentlichen Büchereien überdauern. Man spürt, wie Voigt seine Erfahrung mit der Unzulänglichkeit von Fotos aus dem privaten Album hier überträgt, wie sehr ihn offensichtlich das Momenthafte des fotografischen Dokumentes irritiert, das es möglich macht, den Schrecken in die Geschichte zu verweisen, schlimmer noch: als geschichtliche Episode zu verbrauchen. Aus früheren Sequenzen von Köpfen in einem Bild wird hier die dichte Reihung von Körpern, In roten Kisten (1969) abgelegt, übereinandergestapelt – siehe Gefangene (1968), KZ (1968), Geschichtsbuch I (1976) usw. –, mit ähnlicher Konsequenz für die Erkenntnis; denn auch hier geht es nicht allein um die geschichtsnotorische Massenvernichtung, sondern auch um die noch immer gegenwärtige Frage nach der eigenen Identität, ob man als Mensch vor solchen Bildern überhaupt noch bestehen kann. Je anonymer die stapelten Leiber, desto fragwürdiger der Begriff von Menschsein. Mit leichten Verwischungen dünn aufgetragener Ölfarbe macht Peter Voigt deutlich, dass es sich hier um bildliche Beschwörungen von Vergangenheit, nicht um historische Dokumente handelt Die Farben, gebrochen sonst, aber doch immer gefüllt, materiell, bleiben luftleer, wie ausgelaugt. Sie leiden sichtlich. Das Bild wird schwindsüchtig zum anonymen Tod hin. Bedeutsam ist die so wiedergewonnene Präsenz von schon fast vergessenen Dokumenten, der darin eingeschlossene und in gewisser Weise noch fortdauernde Verlust eigener Identität – auch wenn man nicht beteiligt war. Das ist die Gegenwart der Geschichte. Und sie wirkt, als Metapher wie in konkreten Ängsten, die ähnliche Bilder auszulösen vermögen, weiter fort, ohne dass wir uns dessen ständig bewusst sein mögen. Eine der letzten Arbeiten aus diesem Themenkreis heißt Wartezimmer (1978), in dessen Mittelpart Menschen dicht gedrängt auf Stühlen hocken, während auf zwei Außenflügeln – man darf sich an ein Altarbild erinnert fühlen, die profane Version (siehe oben), kein Welttheater – nur Schemenhaftes sich abspielt, wo im christlichen Sinne gewöhnlich die Welt sich auf ihre Erlösung vorbereitet. Man kann das inhaltlich nicht festmachen, und doch wirkt das Ganze bedrohlich durch die Ungewissheit, die von außen hereinbricht, und durch das stumme Nebeneinandersitzen der Menschen. Weil die Geschichte in Bildern präsent bleibt, wirken auch die Schrecken fort. Wartezimmer sind nicht mehr eindeutig Vororte zur Hilfe, seitdem die Medizin im Dienste der Vernichtung gestanden hat und uns Bilder von Menschen plagen, die in ‚Umkleideräumen‘ dicht gedrängt vor den Gaskammern warteten.

Gegenwart der Geschichte: Ihr Ablauf ist in einer simultanen Szenenfolge festgehalten und zu einem Bild zusammengefügt. Die einzelnen Stationen erscheinen als Blätter eines aufgeschlagenen Buches: eine formale Reihung von selbständigen und doch in das Ganze eingebundenen Teilstücken, mal verkürzt, mal nur schemenhaft zu erahnen. Zur Mitte hin, wo die Blätter zusammenkommen, verschwindet alles ‚im Bauch der Geschichte‘. Auch hier soll die simultane Darstellung von Ungleichzeitigem (Menschen vor dem Mord, dann in Totenkisten, siehe Geschichtsbuch I) oder von scheinbar Unzusammenhängendem („Heil“-Rufe, man sieht nur Teile der schreiend gestreckten Arme und Hände, und Blindekuh-Spiele, siehe Blindekuh, 1978) das Bild vor der Gefahr des bloß Erzählens bewahren. Wie das epische Theater die dramatische Einheit von Ort, Handlung und Zeit auflöst, so brechen die ‚Buchbilder‘ den erzählerischen Fluss der Geschichte, entzerren ihn zu einzelnen Bildern, die miteinander über die formale Brücke Buchseite eine neue Verbindung zu einem Ganzen eingehen. Erinnerungsarbeit als bildliche Gegenwart: das ist – in unterschiedlichen Versionen – ein Teilaspekt der Bildwelt von Peter Voigt, der zum Thema ‚Die Welt als Bühne, und die Bühne als Ort der Monologe‘ gehört. Während der sechziger Jahre und dann wieder in den achtziger Jahren sind dazu eine Vielzahl von Arbeiten mit Sujets entstanden, die auf verwandte des Beginns verweisen. Am Bestand hat sich grundsätzlich nicht viel geändert, er ist nur vielseitiger in den Szenen geworden: Zirkus, Zoo, Strand, Feste. Imagination und Erlebtes. Zu Ein Fest in Alexandria z.B. hat nach eigenem Bekunden die Lektüre von Lawrence Durrel animiert. Andere sind jene Motive (wie Am Strand, 1961, oder Leuchtturm I und Leuchtturm II, 1963), die Peter Voigt als einen unerschöpflichen Bestand begreift. An immer wieder neuen Anlässen gibt es für ihn keinen Mangel.

Die Bilder der sechziger Jahre streifen die letzten Spuren des Spätexpressionismus endgültig ab. Dafür nähert sich Peter abstrakten BildvorsteIlungen, wenn auch mit einem ausreichenden Sicherheitsabstand. Ausgangspunkt und schließlich auch das Ergebnis des Malens bleiben gegenständlicher Imagination verbunden. Die Farbe wird dominanter, auch die – immer gebremste nie unbändige – Geste des Pinsels. Sie scheint sich dem freien Formspiel zu nähern, doch sobald sie etwas eingefangen hat, das ans Gegenständliche erinnert, hält sie es fest. Die Bilder, die so entstehen (siehe z.B. Leuchtturm I und Leuchtturm II, 1963), bedeuten Transformationen des Gegenständlichen allerdings nicht ins sogenannte Wesenhafte, Eigentliche, sondern ins Strukturelle. Insofern war Peter Voigt, auch wenn er sich mit deren Bildsprache beschäftigt, nie ein typisch abstrakter Maler, der das Wesen hinter den Dingen an die Oberfläche der Leinwand bringen will, sondern der – Beckmann folgend – soweit ins Sichtbare eindringt, dass der äußere Schein zugunsten der Baugesetze verblasst (siehe Leuchtturm II).

Nach den ‚Buchbildern‘, die ihn ein Jahrzehnt beschäftigt haben, nimmt Peter Voigt in den achtziger Jahren das Thema der fünfziger und sechziger wieder auf, nun allerdings entschieden dem Gegenständlichen zugeordnet. Jetzt beschreitet er einen eigenen Weg, der ihn zu einer Art metaphorischem Realismus führt. Man muss mit solchen Etiketten vorsichtig sein, weil sie zu sehr ins Literarische drängen. Jedoch am Beispiel des Narrenschiffs wurde ja bereits deutlich, dass hier nicht die Metapher dem Gegenstand übergestülpt wird, sondern er sich in der Konstellation des Bildes selbst dazu verwandelt – das Narrenboot, das gleichermaßen Vanitas wie Transfer bedeutet, die Masken als Verhüllung vor dem anderen und zugleich als Medien einer neuen Wahrheit der Narren usw. Es ist bei der eher flächigen, manchmal wie aus Teilstücken montierten Malweise geblieben, jedoch – die Erfahrungen der sechziger Jahre wirken nach - in einem weniger strengen Duktus. Wohl überschreitet auch hier die Farbe nicht die Form, aber sie ist in einem durchgängigen Rhythmus aufgetragen, dass sie eine neue Art und Weise übergreifender Bewegung ins Bild bringt (siehe Gaukler, 1986). Von einer eigentümlichen Spannung zwischen Individuum und Kollektiv bei Peter Voigt hatte schon Ulrich Gertz 1961 für das Faltblatt einer Ausstellung in der Mailänder Galleria d'Arte Totti geschrieben. Und: Die Gestalten „führen eine schemenhafte Existenz, und die Dynamik einzelner Bilder beruht nicht auf Handlung, sondern wird durch Farbe bewirkt“. In diesem Sinne belustigt noch in den neuen Bildern z.B. der Gaukler ein Publikum, das ebenso wie er selbst schemenhaft und blass bleibt. Die Farbe macht die Gaukelei aus, schafft Bewegung und hält diese zugleich spürbar unter Kontrolle. Voigt lässt sie nicht mit voller Kraft und der möglichen Lautstärke auftreten, sondern dämpft sie in Ton und Leuchtkraft. Gaukelei kann Wahrheit sein im Gewand des Narren, aber auch Flucht aus der Wirklichkeit. Auch die jüngsten Arbeiten von Peter Voigt haben den dialektischen Grundzug der früheren behalten.

Zwischen Große Geste (1987), Theater (1987) und anderen Bildern scheinen die beiden Bilder Judenfriedhof in Prag I (1989) und Judenfriedhof in Prag II (1990) ein wenig isoliert zu stehen und bilden doch ein Zentrum, in dem die unterschiedlichen Erfahrungen der vorangegangenen Jahrzehnte noch einmal zusammenfließen. Peter Voigt bezeichnet beide Bilder als sehr persönliche. Das gilt für die Betroffenheit, die dieser Friedhof auslöste. In den Bildern selbst hat sich diese vom rein Privaten ins Allgemeine verwandelt. Die beiden Arbeiten sind ein unechtes Diptychon; denn obwohl sie nicht eindeutig aufeinander bezogen gemalt sind, gehören sie doch zusammen: zwei einander ergänzende Aspekte des Themas, Geschichte und Gegenwart stehen im Mittelpunkt, Verfall und Ewigkeit. Aus der Gesellschaft von Individuen ist eine Gesellschaft der Sterne geworden. Wie Wächter stehen sie auf den Gräbern, aber zugleich auch wie Mahnmale, bewegungslos und doch in einen Bildrhythmus eingebaut, der dem Eindruck des bloß Starren entgegenwirkt. Die Farben wirken mit gebrochenem Grün, Gelb oder Blau dem Eindruck einer trostlosen Steinwüste entgegen, ohne doch die Last aufheben zu wollen, die hier als materiale wie ebenso als moralische sich verbildlicht. Hier sammelt sich noch einmal in eindrucksvoller Weise, was die Malerei von Peter Voigt auszeichnet: ihr Gespür für die Vieldeutigkeit des Gegenständlichen, ihre Diesseitigkeit, die das Geistige nicht ins Unverbindliche fliehen lässt, ihr spannungsvolles Ausgleichen zwischen statischen und dynamischen Elementen, ihre Zurückhaltung, die kein Pathos duldet, und schließlich die Fähigkeit, Inhalte m Form und Farbe umzusetzen, angefangen von der jeweiligen Temperatur und dem entsprechenden Temperament der Farben bis hin zu mal kantigen, mal aber beinahe verfließenden Linien.

Lothar Romain

Peter Voigt. Arbeiten aus vier Jahrzehnten, Hameln 1990, S. 7–15.